Mein Vater ist lebenszeitverkürzend erkrankt an Amyloidose. Sein Herz und seine Nieren arbeiten nur noch sehr eingeschränkt, er ist sehr schlapp, oft müde und kann sich kaum noch auf den Beinen halten. Es gibt keine Besserung. Diese Dynamik der Abwärtsentwicklung überfordert uns zurzeit alle.
Meine Mutter, mein Bruder und ich stellen uns darauf ein, dass er bald sterben wird. Ich beginne Abschied zu nehmen von meinem Vater, der immer aufrecht und stark durchs Leben ging und mich begleitete. In hilfloser Ohnmacht schreibe ich oft in Gedanken an einer Rede, die ich vor der Trauergemeinde halten werde. Sie beginnt immer mit den Worten: „Mein Vater ist tot.“
Der Tod ist größer als das Leben. Vor der Folie der Endlichkeit bekommen die Dinge meines Lebens eine andere Farbe. Eine innere Haltung erfüllt mich, die ich schwer beschreiben kann, eine absichtslose Gelassenheit erfüllt mich, ein angenehmer Zustand, muss ich sagen.
Meinen Vater beim Sterben zu begleiten, fühlt sich nicht falsch an. Es ist nun Zeit, Abschied zu nehmen. Abschied nehmen in kleinen und großen Schritten, von dem, was gestern noch war und heute schon nicht mehr ist. Ich erfahre schmerzlich, wie mich das Leben zur Randfigur macht, und die großen Spuren ohne mein eigenes Zutun laufen.
Bisher kommen mir die Tränen eher selten, dafür unerwartet. In kleinen Momenten reicht ein einzelnes Wort, das die Tränen aus mir hochzieht und die Türen öffnen will für ein Schluchzen und Schreien. Die Türen schließen sich schnell wieder, da es kein geübter Zustand ist, innerhalb der Familie zu heulen.
Das Leben strömt heute warm durch mich, erfüllt mich, beruhigt mich. Ich fühle mich am richtigen Ort, jetzt bei meinem Vater zu sein. Kann es sein, dass seine schwindende Kraft auf mich übergeht? Meine Position in unserer Familie ändert sich, ich stehe bald „in erster Reihe“. Vielleicht ist Trauer, Tod und Sterben ein Reset auf Null, alte Skripte blitzen noch mal auf und vergehen auch mit dem Vergehen des Lebens.
Sterben muss nicht nur emotional verarbeitet werden, es muss auch organisiert werden. Jede erforderliche Hilfe und Pflege ist eine Abrechnungsnummer und ein Geschäft, muss bewilligt und bezahlt werden. Zum Glück begegnen wir auch Menschen, die dieses Geschäft durch menschliche Wärme abfedern und uns ermöglichen, dass mein Vater zu Hause bleiben und sterben kann.
Schlimm ist die Ohnmacht, die nun jede *r von uns erlebt und auf ganz unterschiedliche Weise mit ihr umgeht. Hilflos bin ich nun und muss mich einer Krankheit fügen, die stärker ist als die Selbsttäuschung, dass wir immer alle gesund seien. Wenn ich das erkenne und mich diesem Machtanspruch enthebe, spüre ich Erleichterung und ich kann wieder: da sein. Zuhören, nachfragen, die Hand meines Vaters halten, ihm in die Augen schauen. Gespräche verschieben sich, viel Pause zwischen den schon anstrengenden Sätzen ist nicht hilfloses Schweigen, sondern stille Kommunikation. Wenn das hektische Bewerten aufhört, Reden müsse in einer bestimmten Weise stattfinden, dann können die Pausen ein Geschenk sein. Sie fordern auf, in mich zu lauschen, wo nun Worte nachklingen und mit einem Echo zurückkommen. Vertrauen, dass alles gut ist, das ist anders, als ständig Dinge mit Worten zu regeln, zu bestimmen.
In der Umkehr der Betreuungssituation von Vater und Sohn bleibt es auch Aufgabe, Respekt zu wahren. Ich lerne, was Demut bedeuten könnte.
Ein besserer Tag täuscht nicht darüber hinweg, dass die Energie meines Vaters immer schwächer wird. Es fühlt sich an, als ob er fast durchsichtig wird, seine Aura verblasst, mehr Geist, immer weniger Körper. Trauer ist nie nur traurig, sondern immer Leben. Auch wenn das Leben nicht mehr viele Tage hat, sind die Tage voller Leben. Der Wunsch meines Vaters nach einer Zitrone, um an Heilig Abend „Kalte Ente“ (Bowle aus Sekt und Weißwein) zu trinken, mutet schon fast komisch an. Beschert uns allen aber ein schönes letztes gemeinsames Weihnachtsfest.
Wenn auf die Frage „Was ist?“ fast keine Antwort mehr möglich ist, dann frage ich mich, „Was bleibt?“ Am Bett schweift mein Blick durchs Zimmer. Viele kleine Dinge fallen mir auf, die herausgefallen sind aus dem Strom des Lebens, an die Ufer gespült wurden und nun hier stehen und eine Geschichte erzählen wollen. Viele Geschichten kenne ich, noch mehr Geschichten kenne ich nicht. Was will ich retten von diesen Geschichten? Kann ich etwas retten? Ist Trauer der Kampf gegen das Vergessen? Festhalten wollen, wo eigentlich loslassen nötig ist? Auch hier: Momente aufschreiben in der Hoffnung, sie vor dem Vergessen zu retten.
Ich versuche, der ausweglosen Lage Herr zu werden mit einer inneren Aufzählung aller Geschichten, die ich nicht vergessen werde. Und breche kurz darauf ab. Spüre die Verzweiflung dieses Versuches. Ich erinnere: In der Zeit vergeht alles, im Moment vergeht nichts. Was so widersprüchlich klingt, versöhnt mich mit dem Schmerz des Vergessens.
Ein paar Tage später liegt mein Vater im Sterben – nun wortwörtlich. Er ist zu schwach, um aufzustehen, nimmt keine Tabletten mehr, isst und trinkt immer weniger. Sein Atem geht ruhig, sein Herz schlägt schnell und sehr schwach. Bewegungen, Sehen, Reden: Alles wird schwächer, diffuser. Die Konturen verschwinden, die Zeit verschwimmt.
Ich sitze an seinem Bett, halte seine Hand, die sich erstaunlicherweise noch so groß und flächig anfühlt, wie ich sie schon als Kind kannte. Bilder, Situationen, Worte fallen mir ein, ein Leben mit meinem Vater, der mich auf seine Weise begleitete.
Seine Stimme ist kaum noch vernehmbar, ich habe noch ein „Tschüss“ gehört, als ich mich tief zu ihm hinunter gebeugt habe zum Abschied.
Dirk, 52 hat das Sterben seines Vaters begleitet und darüber geschrieben. Seine Gedanken teilt er in den Blogs #26-28. Danke für die Möglichkeit, diesen Text und die beiden folgenden hier zu veröffentlichen. Blog #27 wird am 27.02. online gehen.