Eigentlich ist man immer irgendwo III
Mein Vater ist gestorben an den Folgen einer Amyloidose. Innerhalb von vier Wochen wurde aus einem agilen Menschen ein Patient mit multiplem Organversagen, der ohne viel Leiden friedlich verstarb. Nun ist mein Vater ein toter Körper, den die Pietät nun abholt. Die zwei Menschen machen alles langsam und respektvoll, Tragetuch unter den Leichnam, mit Schwung auf die Trage, Sack zu, aus meinem Vater wird eine Leiche, bereit zur Einäscherung. Nun wirkt die kleine Wohnung leer, all das Geschäftigsein der letzten Wochen ruht, alles erscheint trübe, sogar das Wetter gibt sich geschlagen, die Wolken hängen tief.
Am nächsten Tag besuche ich mit meiner Mutter und meinem Bruder den Friedhof, auf dem mein Vater beigesetzt werden soll. Das alles haben meine Eltern schon vor vielen Jahren geregelt, wissend, dass einer von beiden den schwereren Weg gehen wird auf dem Friedhof. Doch alle Planung gilt nicht mehr, den Tod kann man nicht vorausfühlen. Das Wetter beschert uns einen lichten Himmel und wir laufen nach Lageplan alle anonymen Felder ab, nicht wissend, ob wir überhaupt eine Wahl haben werden. Der älteste Teil des Friedhofs ist schon fast ein Wunderwald, sehr schön und naturheimelig. Das ganz kleine anonyme Feld dort gefällt uns am besten.
Mein Vater ist tot, mein Leben wird sich in seinem Ablauf nicht viel ändern, aber sehr in der Energie des Daseins. Mein Vater hat vom Spielfeld an den Rand gewechselt, seine Position ist leer. Es bleiben Dinge und Erinnerungen. Ich will eine Schatztruhe beginnen mit Erinnerungen an meinen Vater, Bilder, Texte, kleine Dinge, die das Vergessen verlangsamen und Wegsteine sein können für die Zukunft. Ich trage einen Gürtel von meinem Vater, ein guter, starker Ledergürtel, viel benutzt und niemals kaputt zu bekommen.
Lange Bahnfahrten trennen mich von dem Wohnort meiner Eltern, nun vom Wohnort meiner Mutter, eine neue Ansprache muss ihren Weg finden in die Alltäglichkeit. Zurück in meinem Alltag werde ich krank und erlebe eine Woche voll schwerer Müdigkeit aber auch Ruhe und Alleinsein. Zu schnell wollte ich wieder normal sein. Nun habe ich geschenkte Zeit. Während ich dies schreibe und meine Hand sehe, erinnert sie mich an die Hand meines Vaters, der, wenn er schrieb, immer so konzentriert und bestimmt war, was dann in seiner kleinen, klaren, aufrechten Handschrift zum Ausdruck kam.
Ich bin zur Hälfte er, Binse der Genetik, habe es bis vor ein paar Tagen dennoch nie gedacht. So viel von ihm ist in mir lebendig. Ich bin weniger traurig und verstört zurzeit, betrachte meinen inneren Zustand eher als Herausforderung, dem ich mich sehr gewachsen fühle. Trauer, trauern, Schritt für Schritt, im Moment ist das stärkste Bild in mir, meinen Vater tot in seinem Bett zu sehen. Den Widerspruch aushalten, dass dort der bekannte Mensch liegt, er aber nicht mehr da ist. Da und nicht mehr da. Viele Menschen sterben, was uns Wartezeit im Krematorium schenkt. Weiter gehen und einen neuen Alltag finden.
Es ist so weit. Die Sonne scheint, kühle Winterluft, meine Mutter, mein Bruder und ich erscheinen zur Urnenbeisetzung. Ein Bediensteter der städtischen Pietät trägt die Urne und begleitet uns zum anonymen Feld. Die Urne ist schlicht, schwarz, mit einem Etikett, das die Daten meines Vaters zeigt. Außenherum ein Plastiknetz, um die Urne später in das Erdloch zu lassen. Einen Spaten breit, zwei Spaten tief wartet das Loch auf die sterblichen Überreste meines Vaters. Der Erdanschnitt zeigt eine Schichtung der Bodenarten, kurz unter der Grasnarbe ist eine dünne, schwarze Schicht zu erkennen, bevor darunter sandige Erde folgt. Ich lasse die Urne in das Loch hinab, unsere Beigaben finden ihren Platz daneben und wollen unsere Verbundenheit und unser Loslassen.
Hier ist ein Ende angezeigt, weiter weg als in die Erde geht es nicht. Gleichzeitig ein Anfang für etwas Neues. Eine Schaufel geben wir reihum, mit der wir Erde von einer Art Tisch nehmen. Gerne würde ich selbst die gesamte Erde auf die Urne geben, die Erde mit meinen Händen bewegen, sie dann feststampfen mit meinen Füßen. Meine Versuche, den Bestattungsort mittels GPS-Daten im Kontakt meines Vaters abzuspeichern, und ihm so dem anonymen Feld zu entreißen, scheitern. Fotos helfen.
Schmerz wird zu Dankbarkeit, eine Lücke beginnt zuzuwachsen, wie eine klaffende Wunde sich schließt und eine Narbe sich bilden kann. Wir leben unseren Alltag in der Selbstverständlichkeit, dass der nächste Morgen ein guter, ein gesunder ist. Darüber vergessen wir, dass unser Leben ein einziges Hoffen ist, dies wird uns erst deutlich, wenn das Gute stockt oder endet. Was früher tägliche Gebete waren, sind heute Work-outs, Gesundheitschecks und gesunde Ernährung. In einem ohren- und sinnbetäubenden Geschwindigkeitsrausch habe ich mich abgelenkt und war verloren im Versuch der Zeit ihre Endlichkeit zu stehlen. Im Schmerz der Trauer wird die vormals verdrängte eigene Kleinheit, Bedeutungslosigkeit und Vergänglichkeit bewusst.
Heute erreicht mich eine innere Leere und Antriebslosigkeit, Gedanken fließen nicht, sondern fallen wie Steine vom Berg, einzeln, schwer, laut. Warum? Wo solange alles gut und er gesund war? Fragen, die haltlos fühlen lassen. Mein Vater starb ohne Schmerzen und ohne lange auf fremde Hilfe angewiesen zu sein, so, wie er es immer wollte. Antworten, die nach Halt suchen. Wie dünn diese Welt ist und wie schnell sie zerbricht, das zeigt mir der Moment des Todes.
Zum Glück scheint die Sonne.
Dirk, 53 hat das Sterben seines Vaters begleitet und darüber geschrieben. Seine Gedanken teilt er in den Blogs 26-28. Danke für die Möglichkeit, diese Texte hier zu veröffentlichen.