Dieser Beitrag folgt Blog #34 und ich empfehle, ihn vor diesem zu lesen.
20. Mai 2014 – Nora steht zu diesem Zeitpunkt kurz vor ihrem 15. Geburtstag
Hallo Ina,
ich danke dir, dass ich mit dir über alles schreiben darf, was mir auf dem Herzen liegt. Mir bedeutet es sehr viel, dass du mir „zuhörst“ und für mich da bist. Vielen Dank, Ina.
Es ist sehr belastend mit niemanden richtig reden zu können. Ich habe aber auch das Gefühl, ich bin es nicht wert, dass mir jemand zuhört und mir Zeit und Aufmerksamkeit schenkt. Als mein Bruder Tom gestorben ist, war Mama oft mit sich und ihrer Trauer beschäftigt. Sie hatte kaum noch Zeit und Kraft für mich und um für mich dazusein. Irgendwann hatte sie gar keine Zeit mehr und auch kein Interesse mehr an mir (so hat es sich jedenfalls für mich angefühlt) Ich kam mir alleine vor, ungeliebt und wertlos.
(Ich kann verstehen, dass es Mama schlecht ging. Einmal aufgrund Toms Tod und dann natürlich auch wegen ihres Tumors. Sie hattee Depressionen und war in einem tiefen schwarzen Loch. Vermutlich konnte sie nichts mehr mit mir anfangen. Ich war ihr keine große Hilfe und zum Schluss hat sie immer wieder gesagt, dass alles ein Ende haben soll. Einmal sagte sie: „Wenn der Tumor nicht bald mein Ende setzt, mache ich das“… Aber ich wusste doch nicht, dass sie es wirklich macht….. ich hätte es wissen müssen, ich hätte Hilfe suchen sollen. Ich hätte alles verhindern können…
Aber was ich eigentlich sagen wollte (ich bin schon wieder abgeschweift vom Thema), wenn meine Mama schon nicht mal mehr Zeit und Interesse an mir hatte, warum soll es dann jemand anderes haben? Warum sollte mir jemand Aufmerksamkeit schenken, wenn nicht einmal Mama das gemacht hat? Verstehst du was ich meine? Mamas sind doch auch dafür da, ihren Kindern Aufmerksamkeit, Zeit und Liebe zu geben. Mama hatte das in den letzten Wochen / Monaten nie für mich übrig. Warum sollte das jetzt einer haben?
Ich komme mir total doof vor. Mir fällt es so schwer jemanden zu vertrauen und zu sagen, wie es mir geht.
Ach, ich weiß auch nicht wie ich das beschreiben soll
Vielleicht hat Mama sich wirklich das Leben genommen, weil ich keine gute Tochter für sie war und mich nicht mehr lieb hatte. Oder ich habe alles falsch in ihren Augen gemacht. Oder sie hatte Tom viel lieber als mich. Sonst hätte sie das doch alles nicht gemacht… Manchmal denke ich wirklich so.. eigentlich oft. Natürlich kann ich mich nicht in jemanden hineinversetzen, dem es so schlecht wie Mama ging. Vielleicht ist das auch gleich alles viel zu leicht gesagt, was ich gleich schreibe. Mama wusste, dass sie sehr krank war und bald hatte sie ja auch einen neuen Termin, an dem sie durchgecheckt werden sollte, mit alles drum und dran – MRT / CT, Arztgesprächen usw. das hätte sie doch noch abwarten können oder nicht? Und dann hätte sich entschieden, wie es weitergehen wird. Ob sie bald sterben würde oder nicht.. Als bei Mama der Tumor im Kopf festgestellt wurde, gab man ihr nicht sehr lange. Es konnte zwar ein Teil entfernt werden, aber nicht alles. Aber sie hat es trotzdem drei Jahre durchgehalten und gekämpft. Aber seit Toms Tod ging es ihr wieder schlechter, vielleicht auch wegen dem Tumor, sie hatte wieder häufig Kopfschmerzen und Schwindel. Naja.. jedenfalls, wenn sich herausgestellt hätte, dass Mama nicht mehr lange leben würde, hätte sie doch wenigstens die Zeit mit mir noch verbringen können. Aber nein, das wollte sie nicht. Sie wollte zu Tom. Sie hatte mich bestimmt nicht mehr lieb. und das tut mir weh
Mit dem aufschreiben, was mir gerade durch den Kopf geht und ich mit der Therapeutin besprechen möchte, ist eine Idee, die ich mir vorstellen könnte umzusetzen. Ich werde es mal versuchen.
Das schreiben fällt mir leichter. Ich kann weinen und schreiben, aber nicht weinen und reden. Das fällt mir so schwer, ich bekomme dabei immer kein Wort raus oder man versteht es nicht vor lauter geseufze 😦
Ich soll mir etwas Schönes gönnen? Ich möchte meinen Geburtstag nicht feiern. Ich mag auch keinen Kuchen essen oder sonst irgendwelche Aktivitäten machen.
Ich würde am liebsten die Schule schwänzen und zu Mama und Tom ans Grab gehen, bei ihnen sein und mit ihnen reden. Alleine ohne irgendjemanden an meiner Seite. Vielleicht mache ich das auch so. Es wird bestimmt wieder Ärger geben, aber dann ist das halt so.
Was mich so fürchtet? Ich habe Angst, dass ich mir wieder etwas antun werde. Meine Gedanken sind letzte Nacht wieder nur darum gekreist, wie iich mir etwas antun kann.
Es gab noch nie einen Geburtstag ohne Mama UND ohne Tom… wie soll ich das überstehen?
Ich schaffe das nicht…. Es tut mir leid, Ina, dass ich wieder so viel geschrieben habe. Ich hoffe ich halte durch und schreibe dir nicht schon wieder vorher, bevor du geantwortet hast!!
Danke!!!
Alles Liebe
Nora
Ein Jahr später, 21. März 2015
Hallo Ina,
kennst du das Gefühl, früh am Morgen aufzuwachen, die Sonne scheint und in dir drin ist alles kalt, dunkel, leer und sinnlos? Wenn dein erster Gedanke ist: Und immer noch bin ich am Leben? Du einfach nur einschlafen willst um endlich deinen Frieden zu finden? Du nicht mehr weißt, warum du überhaupt noch lebst, für wen und für was? Du nur noch unendliche Leere und Einsamkeit spürst und nur noch bei den Menschen sein willst, die du über alles liebst? Aber sie sind nicht da. Sie sind weg und du wirst sie im Leben nie wieder sehen. Nie wieder…
„Sie sind doch in deinem Herzen…“ – wie oft muss ich mir diesen bescheuerten (entschuldige) Satz noch anhören von meinen Therapeuten, Ärzten und Betreuern??? JA, sie sind in meinem Herzen. Aber sie sind nicht bei mir. Sie sind weg, sie sind tot und kommen nie wieder zu mir.
Ich halte das nicht mehr aus.
Nora