Vor ungefähr einem Jahr habe ich unter #33 einen Brief von Jamila (24 J.) an ihre verstorbene Schwester veröffentlicht. Der Beitrag hat viele Menschen erreicht und macht Mut zu dieser Form der Trauerverarbeitung. Immer wieder setzt Jamila sich über das Schreiben von Briefen mit Giulianas Tod sowie ihren eigenen Verlust- und Identitätsgefühlen auseinander. Danke für’s Teilen!
Ich habe letzte Nacht von dir geträumt. Das war das zweite Mal, dass ich von dir geträumt habe, nachdem du von uns gingst. Ich habe geträumt, dass man darüber diskutiert hat, woran du gestorben bist, oder ob du überhaupt gestorben bist. Ich weiß es nicht mehr so genau, aber ich kann mich noch deutlich daran erinnern, mich gefragt zu haben, weshalb man da nun drüber diskutieren muss, da du doch schon so lange nicht mehr da bist und sich die Situation nicht mehr ändern wird.
Das war ein schmerzhafter Traum. Dich zu sehen, vor mir zu haben, nur um dann aufzuwachen und die bittere Realität neu zu durchleben, dass du nicht mehr lebst. Ich bin froh, dass ich selten von dir träume. Mich verletzt es zu sehr, zurück in der Realität ohne dich aufzuwachen. Manche würden sagen, du hast mich besucht, und es ist ein gutes Zeichen, wenn man von Verstorbenen träumt, ich allerdings finde es einfach nur schmerzhaft. Ich denke in letzter Zeit so oft an dich. Ich scheine es einfach nicht verkraften zu können, dass du nicht mehr da bist. Und nicht nur, dass ich nach all der Zeit immer noch so sehr leide, ich habe sogar das Gefühl die Trauer wandelt sich einfach immer und zeigt neue Facetten von sich. Mir ist jetzt zum Beispiel klar geworden, wie viel du in deinem Leben gelitten hast. Das Leben bei uns Zuhause war nicht immer leicht und dich hat es in so vielen Situationen komplett überfordert. Du hast deinen Frust ausgelebt und du hast stetig rebelliert, doch wir haben dir nicht zugehört. Wir gaben dir keinen Raum, deine Gefühle und deine Sorgen kund zu geben. Ich wünschte, das alles wäre anders gelaufen und wir hätten die Möglichkeit bekommen, das aufzuarbeiten, was dich damals so gebrochen hat. Ich hoffe so sehr, dass du in den letzten Monaten deines Lebens Frohsinn und Glückseligkeit erfahren konntest. Leider habe ich als nervige, kleine Schwester keine große Rolle in deinem Teenieleben gespielt, doch ich hoffe, dass du irgendwann doch noch deinen Frieden finden konntest. Ich weiß, du hast dich oft gefragt, welcher Nationalität du dich dazugehörig fühlen sollst und wo eigentlich deine Wurzeln liegen. Ich weiß, du warst am Donnerstag mit Papa verabredet, um über deine Herkunft, deine Wurzeln und über deine Persönlichkeit zu reden, doch leider verstarbst du an dem Montag zuvor und die Frage, die du Papa stelltest „Was sind wir eigentlich?“ konnte dir nicht beantwortet werden. Ich weiß genau wie du dich gefühlt hast, und ich hätte mich so gefreut, die Antworten auf diese Frage mit dir gemeinsam zu finden. Denn als Kind zweier Nationalitäten ist es durchaus schwer herauszufinden, wo komme ich her, wo sehe ich mich und was gehört zu mir. Ich habe meinen Platz nun endlich gefunden, doch dafür brauchte ich auch 24 Jahre. Ich hätte wissen wollen, wie lange, oder wie kurz du gebraucht hättest, um deinen Platz zu finden. Ich hätte dich dabei begleiten wollen. Ich hätte so viel mit dir erleben wollen. Ich hoffe nur einfach, du konntest den Schmerz, den du in dir trugst, verarbeiten und warst doch irgendwo glücklich, bevor dir das Leben genommen wurde…